Shlomo Sand (2012): Die Erfindung des Landes Israel. Mythos und Wahrheit (a.d. Hebr. durch Markus Lemke; Ullstein, Berlin)
Buchbesprechung
Shlomo Sands vielbeachtetes Buch über die „Erfindung des jüdischen Volkes“ (dessen Titel Hebräisch lautete: „Wann und wie wurde das jüdische Volk erfunden?“) erschien 2010 auf Deutsch und war aufregend, aufklärend und umstürzend, ja skandalumschrien. Das neue Buch des Professors für Geschichte an der Universität von Tel Aviv (geboren 1949 in Linz), wendet sich dem geografischen Aspekt desselben Problems zu, es baut auf das vorige Buch auf und führt es folgerichtig fort. Es wirkt auf den Leser weniger überraschend, ist dennoch aus wissenschaftlichen und publizistischen Gründen nötig.
„Kein Gott ohne Land“, hatte Sand festgestellt, ganz im Sinne antiker Religiosität, darum folgt man ihm willig auch auf dem zweiten Pfad: Wenn dieser Gott und sein auserlesenes Volk erfunden sind, dann deren Land ebenso. Diese Erkenntnis hat allerdings eine noch stärkere politische Dimension als schon die erste, denn Kriege werden mit der Begründung von Landesverteidigung und neuen Grenzziehungen geführt, besonders der heutige im Nahen Orient.
Meine Buchbesprechung läßt den politischen Impakt des Buches weitgehend aus, sie konzentriert sich auf den geschichtswissenschaftlichen Gehalt, der für unser Thema „Chronologiekritik“ ergiebig genug ist, um eine Lektüre zu rechtfertigen. Eine derartige Beschränkung ist möglich, weil der Autor selbst seinen „Essay“ im historiographischen Sinne verstanden wissen will, wenngleich er sich seiner Wirkung auf die politische Debatte voll bewußt ist und diese in Interviews auch nicht scheut. Bezüge zur Tagespolitik kommen zwar vor, sind aber nicht vorherrschender Inhalt des Buches, sind nur Anlaß für die brennende Notwendigkeit dieser Forschung. Im Grunde geht es wie im ersten Buch um die Erkenntnis, daß der heutige Zustand von Volk und Land Israel mit Hilfe „geschichtlicher“ Begründung Wirklichkeit angenommen hat. Die Vorgehensweise ist also dieselbe wie im ersten Buch, es ist eine Fortsetzung des Themas mit verbesserter Materialkenntnis, und das sagt Sand auch ausdrücklich (S. 24):
„Und ich begann zu verstehen, dass meine bisherige Arbeit in mehrfacher Hinsicht unausgewogen war. Die vorliegende Studie ist daher nicht zuletzt dazu bestimmt, eine bescheidene Ergänzung zu liefern, die versucht, manche Aspekte genauer zu fassen und Fehlendes hinzuzufügen.“ Die Auswertung von „historischem und historiographischem Material“ ist seine bevorzugte Arbeitsweise. Da beide Bücher im Titel das Wort „Erfindung“ führen, können wir schon vom Ansatz her eine enge Beziehung zu unserer Arbeit annehmen und werden im Laufe der Lektüre nicht enttäuscht. Die Schlußerkenntnis lautet: Es gibt kein Erez Israel, „Erde Israel“, das unabhängig von den ideellen Vorgaben existiert hätte. Erstaunlicherweise ist nicht die Bibel die Grundquelle für den Begriff des Landes Israel. Das müssen wir dem Autor abnehmen, denn wer würde die Bibel so gut kennen wie einer, der nach Jiddisch als nächste Sprache Hebräisch beherrscht. Sand sagt zwar selbst, daß er kein Experte für jüdische Geschichte ist. Das liegt jedoch daran, daß in Israel schulisch unterschieden wird zwischen jüdischer Geschichte und restlicher Geschichtswissenschaft. Seine Domaine ist der zweite Bereich. Vermutlich erlaubt ihm das einen größeren Überblick auch über die jüdische Geschichte. Dabei ist sein laizistischer Standpunkt von großem Vorteil. Seine Erkenntnis lautet: Die Bibel wird heute als Geschichtsbuch, ja als Gründungsbuch des Staates Israel benützt, während sie ursprünglich eine Schrift des Glaubens war.
Zeitsprung von 1800 Jahren
Natürlich wundert sich der deutsche Leser, wenn der Begriff „Bibel“ auf das Alte Testament beschränkt bleibt, hier könnte man dem Übersetzer einen Vorwurf machen. In anderer Hinsicht bezieht Sand die christliche Geschichtsschreibung mit ein und rechnet auch mit christlichen Datierungen. So entgeht ihm nicht, daß zwischen gebräuchlichen Jahreszahlen und vernünftiger Einschätzung derselben große Lücken klaffen. Einmal entdeckt er einen Zeitsprung von 1800 Jahren (S. 29): „Als ich während meines Studiums die chronologische Einteilung der Menschheitsgeschichte seit der Erfindung der Schrift kennenlernte, kam mir die ‚jüdische Heimkehr‘ nach mehr als 1800 Jahren wie ein absurder Zeitsprung ohne jede chronologisch-rationale Verhältnismäßigkeit vor. Für mich unterschied sie sich grundsätzlich nicht vom Mythos der Besiedlung durch Christen – der puritanischen in Nordamerika und der Buren in Südafrika –, die das von ihnen besetzte Land als das biblische, den wahren Kindern Israels von Gott verheißene Kanaan ansahen. Ich kam zu dem Schluß, dass die ‚jüdische Heimkehr‘ vor allem eine wirkungsvolle Erfindung gewesen war, die ein neues Kolonisationswerk rechtfertigen sollte ...“ In diesen wenigen Sätzen kommt der Geist, der Sand beflügelt, bestens zum Ausdruck. Mit ein paar Federzügen durch einige befugte Personen werden Mythen geschaffen, die dann geschichtliche Wirklichkeit annehmen und zu verhängnisvollen Taten in unserer Zeit führen. Wie unsinnig sie sind, wird am schärfsten durch den irrationalen chronologischen Rahmen deutlich.
In diesem Fall des Mythos von der Heimkehr des auserwählten Volkes macht Sand Herkunft und Verwendungsweise ausfindig: Es waren „christlich-protestantische“ Denker, „denen sogar die Urheberschaft dieser Idee zukommt“ (S. 29). „Die Mär von der massenhaften Vertreibung (der Juden) durch die Römer“ ist christlicher Natur und wird Jesus als Prophezeiung von der (zweiten) Vertreibung der Juden in den Mund gelegt (Anm. 13 mit zwei Zitaten nach Lukas 21).
Der Kreis schließt sich und wird sehr eng: Die tatsächlich wirksamen Mechanismen wie ‚zweite Zerstörung des Tempels, Vertreibung und Hoffnung auf Rückkehr nach Jerusalem‘ sind junge Mythen aus christlichem Schatz, die von der offiziellen Lehre in Israel zwecks Bildung einer Nation (Anm. 11) und Führung von Kriegen verwendet werden. Mag uns diese Ausdrucksweise überraschen, inhaltlich fügt sie sich in die neuen Erkenntnisse von der späten Herstellung der Bibel und der antiken Literatur.
Wie absurd die biblischen Erfindungen und ihre gezielte heutige Benützung sind, geht aus einigen scharfen Sätzen Sands hervor (S. 39): „Zuweilen jedoch kann die Geschichte recht ironische Züge annehmen, insbesondere auf dem Feld der Erfindung von Traditionen oder sprachlicher Überlieferungen. Wenige nur machen sich klar oder sind bereit zuzugeben, dass das Erez Israel der Bibel nicht Jerusalem, Hebron, Bethlehem und deren Umgebung umfasste, sondern nur Samaria und einige angrenzende Landstriche...“ Mit Erfindungen dieser Art leben und fallen heutige Staaten. Sand benützt dafür einen zeitnahen Vergleich aus der Computer-Welt: Während das staatliche Territorium die nötige Hardware ist, erscheint die erfundene Vergangenheit als die Software, das Programm (S. 48): „Denn so wie das nationale Projekt sich ohne Staatlichkeit und ohne erfundene Vergangenheit nicht verwirklichen kann, so ist es auch auf die geographisch-materielle Phantasie von einem eigenen Territorium angewiesen, das ihm als Ansatzpunkt und leidenschaftlich verfolgtes Ziel dient.“
Dazu gehört selbstverständlich eine eigene Sprache, die das zu bildende Volk einigt und von allen anderen abgrenzt. Das moderne Hebräisch ist eine Schöpfung zionistischer Gelehrter, „deren Muttersprache in aller Regel Russisch (und/oder Jiddisch) war“ (S. 49). Dieser Vorgang wiederholt den von uns mehrfach beschriebenen der Neuschöpfung klassischer Sprachen wie Arabisch oder Latein. An den Schlüsselwörtern Heimat und Vaterland macht Sand die vertrackten Wege der Entstehung von politisch verwertbaren Inhalten anschaulich.
Früher oder später muß dann das Wort Geopolitik fallen, an einer Stelle (S. 54) geht Sand direkt auf das für uns noch heikle Thema ein. „Diese Disziplin, die auch in Großbritannien, in den USA und schon früher in Skandinavien Anhänger fand ...“ begann mit Ratzel (1897) und Kjellén (1899) und wird heute im angelsächsischen Sprachbereich wieder aufbereitet. Sand scheint sie nur durch D. Th. Murphy (1997) zu kennen, das Zitat nach Ratzel hätte man vom Quelltext her übersetzen sollen, statt auf dem Umweg über das Hebräische, das auf eine englische Übersetzung zurückgreift. Sand fügt aber an, daß Ratzel diesen problematischen Satz nicht mit machtpolitischem sondern kulturellem Wirken verband, weshalb er nicht zum israelischen Konzept paßt, denn dieses ist ja gerade nicht auf Glaubensausbreitung bedacht.
Begriffe wie Israel und Heiliges Land sind nicht deckungsgleich
Fraglich scheint mir, was Sand als „offensichtlich“ ansieht (S. 56): „Ein Anthropologe mit breiter historischer Bildung sollte außerdem nicht außer Acht lassen, daß es der menschlichen Rasse, die ihren Weg offensichtlich auf dem afrikanischen Kontinent begann...“ – nanu? Später werden sich solche Sätze als Produkte ihrer Zeit erweisen, die man nachsichtig überliest („daß es anders war, konnte der Autor noch nicht wissen“). Dieselbe Rüge gilt dem nächsten Satz von den flinken Füßen und der Eroberungslust der Frühmenschen, wobei die längst veraltete These wiederholt wird, daß in der Vorgeschichte zuerst Nomaden und dann Seßhafte sich breitmachten. Seit längerem wird akademischerseits erkannt, daß Seßhaftigkeit der ursprüngliche Zustand war, Nomadisieren eine Notlösung bei veränderten Umweltbedingungen.
Korrigieren möchte ich auch gleich noch Anmerkung 48 zu S. 57: Aschera und speziell Astarte ist eine Sterngöttin, meist Venus, keinesfalls die Erde.
Jedenfalls hängen Erde oder Land und Staat innig zusammen, sie bedingen sich gegenseitig, und das ist bei einem nur ideell oder religiös vorgebildeten Begriff wie Israel und Heiliges Land nicht deckungsgleich. „Neben dem Geschichtsunterricht, der die Vergangenheit des nationalen Gebildes ersann, waren es, wie erwähnt, die Geographiestunden, die das territoriale Gebilde erschufen und Form annehmen ließen. So wurde die Nation zugleich in zeitlicher wie in räumlicher Dimension geformt.“ (S. 79)
Das Erstaunliche an der Rückschau auf die Entstehung des modernen Staates Israel ist für mich Sands Diktum: „Die zionistischen Vordenker waren allesamt, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, Freidenker, Theologie interessierte sie nicht.“ Die Bibel, eine Sammlung theologischer Texte, wurde von ihnen umgestaltet zum Nationalepos. (S. 92)
Mit der köstlichen Ironie, die wir von dem Autor schon aus seinem ersten Band kennen, bringt er in kurzen Sätzen die Absurditäten der mosaischen Geschichte des auserwählten Volkes, wobei mit Leichtigkeit Sprünge über 400 Jahre genommen werden, „eine Zeitspanne, die länger ist als die zwischen der puritanischen Revolution in England und der Erfindung der Atombombe.“ Indem Sand die biblischen Märchen verulkt, erleichtert er dem Leser den zuweilen etwas schleppenden Gang durch die Jahrhunderte, den er mit seiner Arbeit nicht vermeiden kann. Wie modern Bruno Bauer oder Arthur Drews in diesem Gewand auftreten können, gehört zu den Fähigkeiten des Autors. Dazu paßt auch die Umdeutung des peinlichen Massenmordes von Josua, die mit Rückgriff auf archäologische Erkenntnisse als pure Erfindung durchschaut wird (S. 100).
An dieser Stelle nähert sich Sand der „Kardinalfrage: Warum präsentiert die biblische Erzählung die ersten Monotheisten als Einwanderer, als Eroberer, als vollkommen Fremde in dem Land?“ (S. 101) Denn es scheint, daß das Exil eine Grunderfahrung der Bibelschreiber war (S. 102), und daß Monotheismus von ihnen erfunden sei, Auslöser des „jüdisch-christlich-muslimischen Eroberungszuges, der am Ende eines langen Prozesses einen Großteil des Erdballs eingenommen haben würde.“ (S. 104) Hier wirkt das Ergebnis rückwärts auf unser Verständnis der Entstehung, in der Tat Kardinalthema des Buches.
Als Anreger kommt auch Platon zu Wort: In den „Gesetzen“ (Nomoi V, 745 B-E) werden die zwölf Stämme vorgebildet, die in der jüdischen Tradition der Landnahme eine so große Rolle spielen. Wenn man die Ursprünge der Grundannahmen so leicht aufspüren könnte wie diesen, wäre die Enträtselung des Mysteriums der Geschichtsbildung leicht.
Erfindung, Prägung durch Erziehung, das bleibt von diesem Versuch übrig. „Doch die jüdischen Gläubigen, vor allem in Ost- und Mitteleuropa, wollten Mitte des 19. Jahrhunderts überhaupt nicht in ihr heiliges Land auswandern, um dieses nicht zu entweihen. Und jene, die im Westen lebten, waren bereits zu verweltlicht, um noch in eine nationale, pseudoreligiöse Falle zu tappen.“ (S. 311)
Am Ende möchte man Sand den nicht weniger angefeindeten jüdischen Schriftsteller Arthur Koestler an die Seite stellen („Der Mensch - Irrläufer der Evolution“, 1981, S. 25), der kategorisch erklärt: „Kriege werden nicht um Territorien geführt sondern um Worte.“ Denn Territorium ist für Koestler der tatsächliche Besitz des Kriegers, sein Haus und Acker und Fluß. Alles andere ist ideell, von Worten geprägt, ein Sinnbild, eine Idee. Das hat Shlomo Sand mit seinem neuen Buch bis in Einzelheiten nachgewiesen, wobei selbstverständlich nicht alle angeführten ‚Beweissätze‘ diskussionslos hingenommen werden können.
Dennoch läßt sich pauschal sagen: Sands Forschungsergebnisse haben allgemeingültigen Charakter hinsichtlich ihrer Kritik an der Geschichtsschreibung und dem Mißbrauch, der politischerseits damit getrieben wird. Sie bilden ein Muster, das für alle weiteren kritischen Arbeiten angewendet werden sollte. Daß dieses Muster gerade am Beispiel Israel aufgezeigt worden ist, gehört zur Tragik der Zeitumstände, es mindert den Wert der historischen Erkenntnis nicht. Denn die Forderung Sands lautet, daß Israel seine Außenseiterrolle – in der heutigen Zeit ungewöhnlich und unglaubwürdig – aufgebe und sich wie ein Staat unter gleichberechtigten Staaten verhalte, also keine Ethnokratie mehr ausübe, in der Juden einen Sonderstatus innehaben, sondern eine Demokratie, in der alle Staatsbürger gleiches Recht beanspruchen dürfen.
Dabei wird das Existenzrecht Israels nicht in Frage gestellt, diskutiert wird nur dessen Staatsform.
Uwe Topper 4. 2. 2013
Die Besprechung des ersten Bandes von Shlomo Sand hier
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